Wer sonst durchaus lebenslustige Menschen als Gläubige im Gottesdienst erlebt, der kann oft eine schauerliche Verwandlung mit ansehen: Eingefangen in der ewigen Dämmerung und weihrauchgeschwängerten Düsternis des „Gotteshauses“ findet so etwas wie eine Gleichschaltung in Emotion und Bewusstsein statt, eine Art temporärer Amnesie.
Die Gläubigen werden in den Riten dieser „Gottesdienste“ nicht wirklich erhoben oder gar ermächtigt, sich wie wirkliche Kinder Gottes zu fühlen. Vielmehr werden sie energetisch gemolken, weshalb man viele Gottesdienstbesucher mit einer gewissen Benommenheit, einer leichten Absence wie nach einer Blutspende, aus der Kirche treten sieht.
Die katholische Kirche hat seit den Tagen Kaiser Konstantins 1700 Jahre Zeit gehabt, Christi Lehren auf der Welt zu verbreiten und fruchtbar werden zu lassen. Welche zentrale Idee in der Menschheitsgeschichte, ob gesellschaftlich oder metaphysisch, hatte je einen solchen Spielraum zur Entfaltung – und dabei so wenig erreicht? Mit dem Aufstieg der katholischen Kirche als globale politische Macht ging eine beständige spirituelle Verarmung einher, was die Kernbotschaften des Evangeliums angeht: Die Priester haben den gewöhnlichen Menschen so lange den Zugang zum Heiligtum verwehrt, bis sie selbst unfähig wurden, den Zugang dazu zu finden. Übrig geblieben sind überkommene Riten und vage Heilsversprechungen, eine Vertröstung aufs Jenseits.Wenn die Essenz der christlichen Lehre bis heute überdauert hat, dann trotz, und nicht wegen ihrer Vereinnahmung durch die etablierten Kirchen. Wenn sie überdauert hat, dann wegen ihrer innewohnenden Kraft der Wahrheit.
Die zentrale Feier des Christentums ist Ostern, bekanntermaßen. Doch welches Geschehen, welcher Tag genau steht dabei im Mittelpunkt? Keine Frage, werden Priester und Theologen sich beeilen zu sagen: Die Auferstehung, Ostersonntag, ist das zentrale Ereignis christlicher Verkündung.
Nun gut, wenn dem so ist, dann sollte man doch meinen, dass das essentielle Symbol des Christentums dies wiedergeben würde. Man könnte mit ein wenig Phantasie den Menschensohn in einer Aureole goldener Lichtstrahlen sich vorstellen, die Rechte in machtvoller Geste himmelwärts weisend.
Aber nein, ein schmachvolles Kreuz, an dem ein ewiglich leidender Christus hängt, ist das allgegenwärtige Symbol christlichen Glaubens. Und dieses Schreckensbild, das bereits in Kindergärten und Klassenzimmern die jungen Gemüter verdüstert, soll uns „frei“ und „froh“ machen? Es brauchte schon Jahrhunderte an massiver klerikaler Indoktrination, um eine solche Perversion glaubhaft und annehmbar zu machen.
Zeigt sich dann wenigstens in den Riten, in den Gottesdiensten ein freundlicheres Bild? – Manche Sonntagspredigt ist sicher bemüht, einem cholerisch strafenden Jahwe des Alten Testaments den reformierten, grundsätzlich gütigen, aber wenig greifbaren Gott des „Neuen Bundes“ gegenüber zu stellen. Doch beim zentralen Geschehen, dem Abendmahl, zeigt sich die Perversion des katholischen Ritus wieder ungeschminkt. Was eine schlichte Feier und Bekräftigung der Gemeinschaft Jesu mit seinen Jüngern sein sollte, wird zu einem kannibalistischen Opfermythos gewendet: „Nehmet hin und esset: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird. Nehmet und trinket, das ist mein Blut…“
Wer einwendet, dass es sich hier ja nur um ein Gleichnis handelt, darf nicht vergessen: Zumindest nach katholischer Lehre geht das Abendmahl weit über bloße Symbolik hinaus. In einer wundersamen „Wandlung“ werden demnach die Hostie und der Wein tatsächlich zu Christi Leib und Blut.
Wie können wir nur glauben, dass wir einen anderen, „Auserwählten“, leiden lassen können für unsere Schuld, dass das angebliche, und angeblich noch freiwillige Opfer eines besonderen Menschen uns den Himmel erkaufen könnte – wenn wir nur dran glauben.
Einmal mehr steht Ostern vor der Tür, und dies wäre ein guter Zeitpunkt, von einer mutigen Vision zu sprechen. Der Vision, dass wir von einer Kreuzigungsreligion zu einer Auferstehungsbewegung gelangen werden. Von einer Karfreitags-Agonie zu einem Ostersonntags-Erwachen. Und dass wir uns endlich ermutigen und ermächtigen lassen, wirklich Gotteskinder zu sein, denn wie Jesus sagte: „ das was ich getan habe – und mehr! – werdet auch ihr tun!“.
J.B.