Ein offener Brief an den Präsidenten Obama
Sehr geehrter Herr Präsident,
wir haben alle als Wissenschaftler, Experten oder Mitarbeiter von NGOs (von nichtstaatlichen
Organisationen) in Afghanistan gearbeitet oder uns mit Afghanistan beschäftigt – einige
von uns sogar jahrzehntelang. Deshalb sind wir zutiefst besorgt über den gegenwärti -
gen Verlauf des Krieges (in Afghanistan) und über das Fehlen glaubwürdiger Szenarien
für die Zukunft. Dieser Krieg kostet inzwischen allein die USA jährlich mehr als 120 Milliarden
Dollar. Das ist auf die Dauer untragbar. Außerdem nehmen die Verluste an Menschenleben
ständig zu. Allein in diesem Jahr wurden in Afghanistan über 680 Soldaten der
internationalen Koalition und mehrere Hundert Afghanen getötet, und das Jahr ist noch
nicht zu Ende. Wir appellieren an Sie, die unvergleichlichen Mittel, welche die USA jetzt in
Afghanistan einsetzen, und Ihren ganzen Einfluss zu nutzen, um dem Land den ersehnten
Frieden zu bringen.
Trotz dieser riesigen Kosten ist die Situation in Afghanistan viel schlimmer als noch vor einem
Jahr, weil der von den Taliban angeführte Aufstand sich über das ganze Land ausgebreitet
hat. Es ist jetzt sehr schwierig geworden, außerhalb der Städte zu arbeiten, oder
sich auch nur auf den Straßen des Landes zu bewegen. Das Versagen der afghanischen
Regierung und die Fehler der Koalition ausnutzend, haben die Aufständischen an Boden
gewonnen. Die Taliban sind jetzt eine nationale Bewegung, die auch in den Norden und
den Westen des Landes vorgedrungen ist. Die Basen der ausländischen Truppen sind völlig
von ihrer Umgebung isoliert und nicht mehr imstande, die Bevölkerung zu schützen. Die
ausländischen Streitkräfte sind inzwischen schon länger in Afghanistan, als es die Rote
Armee der Sowjetunion war.
Die politischen Verhältnisse sind seit Beginn der Intervention im Jahr 2001 sehr instabil,
da die Wahlbezirke, in denen die Taliban herrschen, nicht im afghanischen Parlament vertreten
sind; außerdem widerspricht die sehr auf die Zentralregierung ausgerichtete Verfassung
den afghanischen Stammestraditionen, weil sie zum Beispiel in vierzehn der nächsten
zwanzig Jahre Wahlen vorschreibt.
Die Operationen im Süden Afghanistans, in den Provinzen Kandahar und Helmand, neh-
men keinen guten Verlauf. Aus einer Strategie, mit der man das Vertrauen der Zivilbevöl -
kerung gewinnen wollte, ist eine umfassende Militäroperation geworden, die viele zivile
Opfer fordert und große Schäden am Eigentum der Bewohner anrichtet. Nächtliche Razzien
sind die Hauptwaffe zur Eliminierung verdächtigter Taliban geworden; die Mehrheit der
Afghanen hält diese Methode aber für illegal. Wegen der gewaltsamen Militäraktionen verlieren
wir in den Paschtunen-Gebieten den Kampf um die Herzen und Hirne und geraten in
diesem Krieg immer mehr ins Hintertreffen. Diese Maßnahmen bringen nur fragwürdige
militärische Ergebnisse, verursachen aber viel Leid. Weil die Taliban ständig Unterstützung
aus Pakistan erhalten, wird ein militärischer Erfolg immer unwahrscheinlicher. Die
Drohnen-Angriffe auf pakistanisches Gebiet haben nur geringe Auswirkungen auf die Aufständischen,
destabilisieren aber Pakistan. Die Verluste der Aufständischen werden ständig
durch neuen Rekruten ersetzt, die häufig noch radikaler als ihre Vorgänger sind.
Mit der Militärkampagne (der USA und der NATO) lassen sich zwar stellenweise und vor -
übergehend die Symptome der Erkrankung (Afghanistans) behandeln, sie lässt sich aber
nicht damit heilen. Militärische Aktionen können die Sicherheit lokal und zeitlich begrenzt
verbessern, aber diese Verbesserungen sind weder von Dauer, noch ohne politische Vereinbarungen
auf die riesigen Gebiete (Afghanistans) zu übertragen, die nicht von westlichen
Truppen besetzt sind.
Die erklärte Absicht, der nationalen afghanischen Armee bis 2014 die Verantwortung für
die Sicherheit (des Landes) zu übertragen, ist nicht realisierbar. Angesichts des fortschreitenden
Zerfalls der staatlichen Strukturen auf der Ebene der Distrikte (die 34 Provinzen
sind in Distrikte unterteilt, s. dazu
http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_ ... ghanistans
), ist es schwierig, sich vorzustellen, die afghanische Armee könnte allein ohne andere
staatliche Institutionen für Sicherheit sorgen. Ob uns das gefällt oder nicht, die Tali -
ban werden auf lange Sicht ein wichtiger Faktor der politischen Landschaft Afghanistans
bleiben, und wenn wir eine diplomatische Vereinbarung mit ihnen treffen wollen, werden
wir versuchen müssen, mit ihnen zu verhandeln. Die Taliban-Führung hat bereits ihre Bereitschaft
zu direkten Verhandlungen (mit den USA und der NATO) signalisiert, und es ist
in unserem Interesse, mit ihr zu sprechen. Die Taliban wollen sich in erster Linie um die
Zukunft Afghanistans kümmern und nicht – wie einige immer noch behaupten – einen globaler
Dschihad zur Verbreitung des Islams (
http://de.wikipedia.org/wiki/Dschihad ) organisieren.
Ihre Verbindungen zu Al-Qaida – die es in Afghanistan überhaupt nicht mehr gibt –
sind ohnehin schwach. Wir müssen wenigstens ernsthaft zu erkunden versuchen, ob es
möglich ist, mit den Taliban eine politische Vereinbarung zu treffen, die sie am politischen
System Afghanistans teilhaben lässt. Die Verhandlungen mit den Aufständischen sollten
auf alle anderen Gruppen in Afghanistan und auf regionale Mächte ausgeweitet werden.
Die gegenwärtigen Kontakte zwischen der Karzai-Regierung und den Taliban sind nicht
ausreichend. Die USA müssen die Initiative zu Verhandlungen mit den Aufständischen ergreifen
und die Gespräche so anlegen, dass auch die Sicherheitsinteressen der USA in
Betracht gezogen werden. Außerdem ist es aus dem Blickwinkel benachteiligter Gruppen
der afghanischen Bevölkerung – zum Beispiel der Frauen und der ethnischen Minderheiten
– und unter Berücksichtigung der geringen, aber messbaren Erfolge, die seit 2001 erzielt
werden konnten, besser jetzt als später zu verhandeln, weil die Taliban wahrscheinlich
im nächsten Jahr noch stärker sein werden. Deshalb bitten wir Sie, einen direkten Dialog
und Verhandlungen mit der in Pakistan residierenden Führung der afghanischen Taliban
einzuleiten und zu unterstützen. Eine Waffenruhe und die Rückkehr der Führung der
Aufständischen nach Afghanistan könnten Teile eines Deeskalationsprozesses sein, der
zur Bildung einer Koalitionsregierung führt (an der die Taliban beteiligt sind). Weil nicht
mehr die geringste Chance auf einen militärischen Sieg besteht, würde die Fortsetzung
der gegenwärtigen US-Politik (in Afghanistan) die USA in eine sehr schwierige Lage bringen.
Damit in einem Prozess politischer Verhandlungen überhaupt Chancen zur Lösung wichtiger
Kernprobleme und zur Beseitigung der politischen Ungleichheit entstehen können,
muss er auf vielen verschiedenen Ebenen ablaufen – neben Verhandlungen mit den
Nachbarländern Afghanistans muss bis hinunter auf die Ebenen der Provinzen und Unterdistrikte
verhandelt werden. Diese verschiedenen Verhandlungsebenen sind wichtig, um
die Botschaft, dass an Gesprächen über die politische Zukunft Afghanistans alle politischen
Gruppierungen beteiligt werden müssen und dass es nicht nur um einen schnellen
Deal mit Vertretern der Aufständischen geht, zur Realität werden zu lassen.
Wir glauben, dass durch Vermittlung (der USA in den Verhandlungen) ein Abkommen erreicht
werden kann, das Afghanistan Frieden bringt, das den Taliban eine verantwortliche
Teilhabe an der politischen Ordnung Afghanistans ermöglicht, das sicherstellt, dass Afghanistan
nicht mehr als Basis für den internationalen Terrorismus dienen kann, das den Afghanen
ihre schwer erkämpften Freiheiten sichert, das hilft, die Region zu stabilisieren,
das die Anwesenheit großer ausländischer Truppenkontingente in Afghanistan überflüssig
macht und das die Grundlage für dauerhafte Beziehungen Afghanistans zur internationalen
Gemeinschaft sein kann. Die USA werden ihren ganzen politischen und diplomatischen
Einfallsreichtum mobilisieren müssen, um dieses positive Ergebnis erreichen zu
können. Es wird Zeit, eine alternative Strategie zu entwickeln, die es den USA ermöglicht,
aus Afghanistan abzuziehen und trotzdem ihre legitimen Sicherheitsinteressen zu wahren.
Hochachtungsvoll,
Mariam Abou Zahab, Forscherin und humanitäre Helferin in Afghanistan in den 1980er
und frühen 1990er Jahren
(Es folgen 55 weitere Namen, die am Ende des englischen Texte alle aufgeführt sind.)
Unser Kommentar
Die internationalen Afghanistan-Experten schätzen die Sicherheitslage in Afghanistan als
so verheerend ein, dass sie ein mit der Taliban-Führung ausgehandeltes Abkommen, das
einen baldigen Abzug aller ausländischen Truppen zum Ziel hat, als einzig verbliebene
Möglichkeit zur Beendigung des Afghanistan-Desasters ansehen. Damit strafen sie nicht
nur die jüngste US-Einschätzung zur Lage in Afghanistan und Pakistan Lügen (Wortlaut
s .
http://s3.amazonaws.com/nytdocs/docs/541/541.pdf ), sie machen auch den vom deutschen
Außenminister Westerwelle vorgelegten "Fortschrittsbericht Afghanistan" zu Makulatur
(Wortlaut s.
http://www.bundesregierung.de/Content/D ... 0/2010-12-
13-fortschrittsbericht-afghanistan,property=publicationFile.pdf ).
Leider weisen sie nicht darauf hin, dass es sich bei dem US-Überfall auf Afghanistan und
dem angeblich den Wiederaufbau sichernden ISAF-Einsatz der NATO um einen völkerrechtswidrigen
Angriffskrieg handelt, dessen Auslöser als Kriegsverbrecher verurteilt werden
müssten. Diesen Nachweis führt der Völkerrechtler Prof. Gregor Schirmer (s.
http://de.wikipedia.org/wiki/Gregor_Schirmer ) in seinem Artikel "Anhaltender Rechtsbruch
– Krieg und und Besatzung in Afghanistan verstoßen gegen die UN-Charta, den NATOVertrag,
die Genfer Konventionen und das Grundgesetz", der unter
http://www.jungewelt.-
de/2010/12-14/051.php nachzulesen ist.
Quelle:
http://www.luftpost-kl.de/luftpost-arch ... 221210.pdf